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!!>> SonntagsZeitung vom 05.09.1999


 "Sit - in bei Sitting Bull"
Der Winterthurer Charly Juchler führt Touristen zu den Lakota-Indianern
von Frank Heer und Christian Heeb

Die Hitze drückt erbarmungslos. Reiseleiter Charly Juchler schiebt das Tape von Ennio Morricone ins Kassettengerät seines Chevrolets: "Spiel mir das Lied vom Tod - einer meiner Lieblingswestern", sagt er. Die Musik passt zur rauen Landschaft links und rechts der Strasse. Canyons und wundersam geschliffene Hügelketten ziehen sich durch eine wasserlose Ebene aus Kalkstein und dürrem Präriegras. Schwarze Wolken stapeln sich turmhoch am Nachmittagshimmel. In der Ferne kreisen geduldig drei Geier. Es braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, weshalb französiche Einwanderer diese Gegend auf ihrem Weg nach Westen "Badlands" - schlechtes Land - genannt haben. Damals dauerte der Ritt durch das unfruchtbare Gebiet noch Tage.
Der Mythos vom Wilden Westen drängt sich dem modernen Touristen geradezu auf. Auch Hollywood entdeckte die spektakuläre Mondlandschaft der Badlands für Cowboy-Knüller wie "Rauchende Colts" oder "Bonanza".
Dutzende von Filmen nach dem Muster "Gute Siedler, böse Indianer" wurden hier gedreht und halfen mit, amerikanische Geschichtsverfälschung zu betreiben. Kritischer handelte Kevin Costner die historischen Fakten am Fusse der Black Hills in seinem Epos "Dances with Wolves" ab. Zum Beispiel das Massaker von Wounded Knee, wo vor 109 Jahren 300 unbewaffnete Hunkpapa-Indianer im Kugelhagel der US-Armee starben. Selbst Bewohner des örtlichen Reservates Pine Ridge bezeichnen Costners Darstellung der letzten "Indianer-Kriege" Nordamerikas als "the way it was" - so, wie es war. Viele wirkten als Schauspieler mit.

Sitting Bulls Nachfahren leben unter armseligen Bedingungen
Charly Juchler stellt das Autoradio seines zehnplätzigen Trucks leiser. "Wounded Knee gilt bis heute als einer der schwärzesten Tage in der indianischen Geschichte", sagt er und schaut in den Rückspiegel. Acht junge Frauen und Männer hören ihm äusserst aufmerksam zu. "Geschichtsunterricht" gehört zum Reiseprogramm des 36-jährigen Winterthurers, der seit fünf Jahren "Kultur- und Landschaftsreisen" für kleine Gruppen zu den Lakota-Indianern leitet. Doch Juchler weiss immer um die richtige Dosierung und hält seine Referate kurz und spannend.
"Ich habe mich ziemlich intensiv mit der indianischen Kultur beschäftigt, nachdem ich ich mich für die Reise angemeldet hatte", sagt ein junger Mann aus Klosters. Er ist wie alle anderen Teilnehmer, begeistert von den Erlebnissen. Doch zur Begeisterung gesellt sich auch Ernüchterung. Nicht nur bei der Besichtigung historischer Gedenkstätten wie Wounded Knee oder Little Big Horn. Spätestens beim Überfahren der Grenze ins Lakota-Sioux-Reservat Pine Ridge wird die Kehrseite der Wild-West-Romatik sichtbar. Die Wohnwagen- und Fertighausansammlungen in den Hügeln entlang der Landstrasse sind nicht eben das, was man sich unter der Lebensweise der Nachfahren von Sitting Bull und Crazy Horse vorstellt. Eine Tankstelle, der Ableger eines amerikanischen Fastfood-Giganten, ein Gemeindezentrum und eine Kirche - mehr hat das Zentrum der Siedlung Pine Ridge nicht zu bieten. "Vor zehn Jahren gab es hier noch nicht einmal einen Supermarkt", sagt Charly Juchler.
Das Stammesgebiet hat etwa die Größe der Nordostschweiz und zählt zu den ärmsten Flecken der Vereinigten Staaten. Hinzu kommt ein zweiter, trauriger Rekord: 80 Prozent der Einwohner sind Alkoholiker. Die meisten von ihnen haben keine Arbeit. Glücklicherweise habe sich die Situation in den letzten Jahren verbessert, sagt Juchler. Nicht zuletzt dank staatlicher Hilfsprojekten. Auch das Selbstbewusstsein in den Reservaten steigt, und damit die Besinnung auf die eigene Kultur. So feiern die Indianer vermehrt traditionelle Feste und Zeremonien wie das jährliche Powwow in Pine Ridge, ein äusserst geselliges Tanzfest verschiedener Lakota-Stämme mit Chilbicharakter.
Schon von weitem hören wir in der Dämmerung die dumpfen Trommeln und markigen Gesänge vom Festgelände her und sehen die bunten Lichter der Imbissbuden. Das Fest lässt die Reservatstristesse für ein paar Stunden vergessen. Westliche Greenhorns wie wir können sich ob der Farbenvielfalt kaum satt sehen: federgeschmückte Frauen, Männer und Kinder in perlenbestückten Kostümen aus Büffelleder und Leinenstoffen, prächtige Kopfbedeckungen, hie und da bemalte Gesichter. Das Festgelände wird von treibenden Trommeln und hypnotisierenden Gesängen beschallt, die durch billige Lautsprecher scheppern. Je länger der Abend, desto ekstatischer die Tänze in der Mitte des Areals. Junge Lakota-Burschen nutzen das Powwow vor allem, um bei einer Chilli und einer Cola mit den Mädchen zu flirten.

Aufdringliche Bisons jagen den Puls der Greenhörner in die Höhe
Juchler geht es bei seinen Reisen darum, den Teilnehmern einen differenzierten Einblick ins Leben der Indianer zu vermitteln. Das schafft er durch Respekt und freundschaftliche Beziehungen, die er sich über Jahre zu lokalen Lakotas aufgebaut hat. Das Vertrauen der Einheimischen gewährt ihm Zugang zu Orten, die dem gewöhnlichen Touristen mit Sicherheit verborgen bleiben.
Zum Programm gehört ein Reitausflug mit Pferdezüchter Alex White Plume in abgelegene Reservatsbereiche, wo die Weite der Prärie bei Sonnenuntergang selbst Naturmuffeln den Atem stocken lässt. Auch die hautnahe Begegnung mit dem wohl grössten Bewohnern Nordamerikas, den Bisons, treibt den Pulsschlag in die Höhe, wenn unser Chevy von der Herde eingekreist und kritisch beäugt wird. Undenkbar ohne Juchlers Beziehungen wäre auch die Diskussionen mit dem weisen Oglala-"Medizinmann" Henry Running Bear, der es liebt, auf seinem Grundstück in den Badlands über die Philosophie seiner Stammesväter, über Motorräder und sein Studium an einer katholischen Klosterschule zu philosophieren. Und den Trommelbauer Dave Holy Eagle und seine Frau Sonja laden in ihre privaten vier Wände ein und erzählen von ihrer Arbeit und dem Leben im Reservat. Seltene Gelegenheiten, um endlich nachzufragen, was man schon immer über Indianer wissen wollte.
Seit Jahren gehört auch Pfeifenmacher Sunny Zimica, 64, zu Charlys Freunden. Ein Oglala-Lakota, der von sich behauptet mütterlicherseits mit dem berühmten Outlaw und Halbblut-Indianer Jesse James verwandt zu sein. Wir besuchen ihn in seinem Haus in Hot Springs, drei Autostunden von Pine Ridge entfernt. Sunnys Haar ist grau und dünn. Die Sonne und das Wetter haben Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Doch noch immer blinzeln seine Augen äusserst wach. "Es gibt kaum jemanden, der das Handwerk des Pfeifenmachers heute noch beherrscht und weiss, wo die richtigen Materialien zu finden sind", sagt Sunny über seine Arbeit. Die Pfeife sei ein spirituelles Instrument, und das Paffen symbolisiere die Verbindung zwischen Erde und Himmel.
Sunny lädt zwei Kühlboxen mit Sandwiches und Getränken auf die Ladefläche seines alten Pickups. Wir brechen auf zum Craven Canyon am Fusse der Black Hills. Noch 1868 waren die "Schwarzen Berge" vertraglich zugesichertes Stammesland und heiliger Boden für die Lakotas. Erst die Nachricht von sensationellen Goldfunden in den nachfolgenden Jahren brachte Heerscharen von Glückssuchern aus dem Osten ins Sperrgebiet. Und schliesslich kamen Einheiten der US-Armee. Die Schlacht am Little Big Horn von 1876 war zwar ein blutiger Rückschlag für die amerikanische Regierung und General Custers 7. Kavallerie. Doch in der Folge wurde umso erbarmungsloser gegen Stämme vorgegangen, die sich noch nicht freiwillig in den zugewiesenen Reservaten niedergelassen hatten. Die für Lakotas lebenswichtigen Büffel wurden in wenigen Jahrzehnte von geschätzten 40 Millionen auf knapp 100 Exemplare reduziert.
Sunny steuert seinen Wagen durch ein hügeliges, grünes Tal. Kaum mehr ein Weg ist erkennbar. Flachgeschliffene Felsen bauen sich beidseitig des Tales auf. "Hierher verirrt sich kein Tourist", sagt Sunny. Auch eine passende Geschichte darf nicht fehlen: "Die Alten im Reservat erzählen, dass in dieser Gegend eine Postkutsche von den Lakotas überfallen wurde. Sie war beladen mit einer Kiste Gold." Doch weil das gelbe Metall für die Lakotas wertlos war, habe man die Pferde genommen und die Kutsche samt Gold in eine der vielen Felshöhlen gezogen. Irgendwo dort oben soll sie angeblich noch liegen. Sunny lacht. Er werde vielleicht mit Charly losziehen und nach der Höhle suchen. "Mit dem Gold würde ich mir ein grosses Stück Land in den Black Hills kaufen, das mir niemand mehr wegnehmen kann."

Über Prärie-Indianer weiss Juchler mehr als über den Rütlischwur
Nach einem kurzen Fussmarsch durch eine schmale Schlucht stehen wir vor einer glatten Felswand und bestaunen merkwürdige Zeichnungen und Symbole. Manche seien bis 2000 Jahre alt, sagt Sunny. Was sie wohl bedeuten, möchte man gerne wissen. Sunny muss passen. Fest steht nur, dass hier im Craven Canyon noch bis Ende des letzten Jahrhunderts zahlreiche indianische Zeremonien abgehalten wurden. Der Blick hinunter auf die grüne, weite Ebene lässt erahnen, weshalb sich die Lakotas dieses Tal zur Kirche machten und was sie unter den ewigen Jagdgründen verstehen.
Charly Juchler ist hier vor fünfzehn Jahren "auf die Welt gekommen", wie er sagt. Wir sitzen spätabends vor einem Lagerfeuer in den Black Hills und warten, bis das Wasser für den Kaffee kocht. Die Gruppe ist so begeistert vom Campen im Wald, dass niemand mehr nach Rapid City ins Motel gehen möchte. Charly ist felxibel und schließt sich dem Wunsch seiner Gruppe an. Der Kaffee tut gut. Charly stochert mit einem Ast im Feuer. Er habe seinen Bubenträumen nachspüren wollen, sagt er, als er mit 20 zum ersten Mal ins Pine-Ridge-Reservat reiste. Bald merkte er, dass die Realität anders war als in den Büchern, die er verschlungen hatte. 1987 kehrte er für die Hilfsorganisation Service Civil International für fünf Monate nach South Dakota zurück und schloss erste Freundschaften mit Reservatsbewohnern. Nach ein paar Jahren als Greenpeace-Maschinenmechaniker auf hoher See beschloss Juchler, sich in Rapid City niederzulassen: "Schon in meiner Kindheit wusste ich mehr über die Prärie-Indianer Nordamerikas als über den Rütlischwur."
In der Ferne hören wir das Heulen eines Kojoten. Der Sternenhimmel wirft ein mattes Licht über die Wälder und Tipis im hohen Gras. Unten im Flachland kann man schwach die hellen Hügel der Badlands erkennen. Und weit oben am Mount Rushmore thronen, kaum erkennbar, die weissen Felsköpfe der Herren Präsidenten Washington, Jefferson, Lincoln und Roosevelt. "Die grösste Attraktion in South Dakota", will mir der Taxifahrer auf der Rückreise zum Flughafen weismachen.

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