"Begrabt die Zeit an der Biegung des Flusses"
von Luisa Francia und Christian Heeb
"Wenn Du einen Menschen beurteilen willst, dann laufe drei Monde in seinen Mokassins." Diesem alten Lakota-Sprichwort verdanke ich meine neuen Schuhe. Ganz weich sind sie aus Rehleder und mit Büffelsohlen. In den Farben der Oglala-Sioux für die vier Himmelsrichtungen, gelb (für den Osten), weiß (Süden), schwarz (Westen) und rot (Norden) sind Perlen zu Sternmustern aufgestickt. Durch viele Powwows, die indianischen Tanzfeste, haben sie meine Vorgängerin getragen - hat sie ihre Mokassins in einen Pawnshop (Leihaus) gegeben, damit sie ihrerseits einen anderen Menschen Schritt für Schritt kennenlernt?
Trotz meiner Mokassin-Unterstützung wird es nicht gerade leicht werden, die Sioux zu verstehen. Ich habe als Kind nicht Karl May gelesen, wollte nicht Ntschotschi sein, ging im Fasching nie als Indianerin. Wenn New-Age-Jünger mit irgendwelchen Pseudoschamanen Schwitzhütten-Touren ins Allgäu oder nach Tirol machten, lehnte ich dankend ab. Wie sieht's wohl aus, das authentische "Indianerland"?. Ist es eine Traumlandschaft à la "Der mit dem Wolf tanzt" voll edler wilder Menschen, ist dort der Geist von Crazy Horse lebendig, dem mächtigen Sioux-Führer, oder ist es verbrannte Erde, in der Hoffnungslosigkeit und König Alkohol regieren? So wie im 6th Street Deli Cafe, Rapid City. Ein Indianer torkelt auf mich zu. Wofür er Geld brauche, er sei doch schon betrunken, frage ich ihn. "I want to drink my heart away", sagt er.
Herzzerreißend heult der Sturm, der in der Nacht ums Zelt tobt. Die Donnerwesen tanzen. Ihr wilder Atem rast um die Bäume und reißt an den Stangen. Sie rütteln die alten Kiefern und Tannen der Black Hills, peitschen das Wasser des Cheyenne River. Das gelbe Präriegras biegt sich im Sturm und richtet sich wispernd wieder auf. Die Geister der Ahnen klagen. So viele Tote! So viel Blut! So viel Schmerz! Orion geht auf und in seiner Nachbarschaft die Plejaden, die sieben Sterne, die in jedem Tipi durch die Kunstruktion der Stangen gespiegelt werden. Im fahlen Licht des Mondes erhebt sich der Sheep Mountain in den Badlands. Auf diesen Berg zogen die letzten Überlebenden der Oglala-Sioux zum verbotenen Geistertanz. Die Soldaten konnten ihnen nicht folgen, weil nur ein einziger Pfad zwischen zerklüftetem Sandstein auf das grasbewachsene Plateau führt - ungangbar für Pferde. Angeblich wird dort heute der Geistertanz wieder getanzt, ein Tanz, in dem der Geist der amerikanischen Ureinwohner gerufen und beschworen wird. Ein Tanz der die Weißen vertreiben soll ...
Versöhnung zwischen der weißen und der Indianer-Kultur ist das Anliegen von Charly Juchler. Der Greenpeace-Aussteiger lebt in den Black Hills und arbeitet als Guid in der Pine Ridge Reservation. Er erzählt von den Bemühungen der Lakota, ihre Kultur zu erhalten, die Traditionen auch der jungen Generation nahezubringen. Und er spricht von dem traurigen Gegensatz: das wilde, reiche, schöne Land und die immens hohe Zahl seiner Bewohner, die von der Wohlfahrt leben. In Scenic direkt an der Grenze zum Reservat betreiben ein paar Weiße Schnapsbuden, damit die Indianer wissen, wohin sie ihre Wohlfahrtsschecks tragen. Hier herrscht der reine Verfall, ironischerweise steht er den Wildwestbaracken gut. der örtliche Pawnshop wird von einer weißen Familie geführt. Hier gibt's von indianischen Leder- und Perlenarbeiten über Waffen bis Lebensmittel alles. Der uralte Firmengründer mit strähnig-weißen Haaren sitzt im Rollstuhl und sieht aus, als wäre er vor hundert Jahren eingeschlafen und als hätte ihn der Tod dann vergessen.
"Weiße haben keine Seele", meint Frank, der Lakota-Lehrer. Wir sitzen im Kreis auf dem Hügel über seinem Sonnentanzplatz in der Pine Ridge Reservation. Das sagen jedenfalls die Ahnen. Die Weißen haben die lineare Geometrie erfunden und sich damit die Seele aus dem Leib gerechnet. "Die Kultur der vielen Ebenen, des Kreises und Erzählens haben sie damit verdrängt." Für das Volk der Lakota hat es diese Eindimensionalität nie gegeben. Es wurde im Wind Cave, der langen Höhle in den Black Hills, von der Erde geboren. Als Nomaden zogen sie von den Rocky Mountains bis zu den Plains, den weiten Ebenen, immer der Stimme ihrer Ahnen folgend. Sie hausten in Tipis, die zugleich als Schwitzhütte dienten, den Bauch der Erde symbolisierend. Frank schildert uns die Verständigungsschwierigkeiten, als die Weißen kamen. Die Sprache der Lakota ist immer nur in der verbalen Tradition überliefert worden. Dadurch blieben alle Nuancen und Bedeutungen erhalten. Ein Satz konnte, verschieden intoniert, bis zu zehn Bedeutungen haben. Mit dem Aufschreiben der Sprache ging die Vielschichtigkeit verloren. "Nicht nur körperlich, auch kulturell wurden wir fast ausgerottet!" sagt Frank. "und immer hieß es, daß wir keine Seele hätte. Wir sehen das anders."
Er lädt uns ein, mit seiner Familie in die Schwitzhütte zu gehen. Zuerst treten die Frauen ein, ihnen gegenüber lassen sich die Männer nieder. Es wird heiß. Die Frauen sind von Kopf bis Fuß verhüllt, die Männer haben den Oberkörper frei. Strenge Regeln engen das Leben der Sioux-Frauen ein. "Eine Frau darf meinen Weg nicht vor mir kreuzen", sagt Frank, der bei einem Medizinmann lernt. Die Hitze schwemmt meinen aufflammenden Ärger weg. Die Großmutter stöhnt neben mir. Nur durch hauchfeine Spalten in den Decken, die über die Schwitzhütte geworfen werden, dringt ein Lufthauch ein. Die Hitze ist überwältigend. Gebete werden gesprochen, Frank singt, ruft den mythischen Großvater, den Adler, die vier Ecken der Welt. Schließlich wird Wasser über die heißen Steine gegossen. Als die Decken zurückgeschlagen werden, fühle ich mich frei und unbeschwert. Die Nacht ist angebrochen, Sterne funkeln über der tiefen Stille. Der nahe Bach kühlt die heiße Haut.
Der nächste Tag ist für Hot Springs reserviert, genauer: für Sonny, den Pfeifenmacher. Rote Ziegelsteinhäuser der Jahrhundertwende zeugen davon, daß hier einmal viel Geld umgestetzt wurde. Heute leben vor allem Kriegsveteranen in Hot Springs, vermutlich wegen des guten Klimas und der warmen Quellen, die öffentlich zugänglich sind. Das Wasser,das aus dem "griechischen" Tempelchen sprudelt, soll unglaubliche Heilwirkung haben. Nur wenige Kilometer entfernt liegt Edgemont, der Ort, an dem in den sechziger Jahren Uran gefördert wurde. Die radioaktiv strahlenden Halden wurden vom Cheyenne River immer wieder überschwemmt. Die AIM-Bewegung (American Indian Movement) verlangte die Beendigung der Uranförderung auf Ureinwohnerland. Heute ist das Uran nach Aussagen vieler Reservatsbewohner kein Problem. Die Förderung wurde eingestellt, viele der AIM-Aktivisten landeten im Gefängnis. Einige davon sind heute Filmstars, wie Russel Means und Floyd Westerman, die in "Der mit dem Wolf tanzt" mitspielten. Sonny ist in der vierten Generation Pfeifenmacher. Vor Sonnys Haus spendet ein Baumwollbaum Schatten. Die Tür zur Werkstatt steht offen. Aus dem Chaos von Steinen, Werkzeug, Bildern und Holzstücken fördert er die wundervollsten Pfeifen zutage. Sonny erzählt, daß es zwischen den Ureinwohnern einen Streit um den Steinbruch des Pfeifensteins gibt. Er schüttelt den Kopf und lacht. "Dabei wurde uns die Pfeife gegeben, damit wir Frieden halten".
Die Black Hills sehen aus, als hätten sie nie kriegerische Zeiten erlebt. Liebliches Hügelland, tiefblaue Seen, sprudelnde Quellen. Adler Kreisen über Baumwipfeln, Mobile Homes stehen an Aussichtspunkten. Überall sind Pferde, Quarterhorses, die gefleckten Ponys. Hinter bizarren Felsformationen liegt das Crazy Horse Monument. Pressechef Rob DeWall erklärt die mühsame Arbeit am Denkmal. Eine polnisch-amerikanische Steinmetzfamilie beackert seit vierzig Jahren den Fels in den Black Hills. In Anlehnung an die Präsidentenköpfe des Mount Rushmore sprengen sie die Gestalt von Crazy Horse und seinem Pferd heraus. Ein ganzes Netz von Paradoxien ist um das Denkmal gesponnen: Wie kann man in einen heiligen Berg das Konterfei eines Häuptlings meißeln, von dem es überhaupt kein Bild gibt. Crazy Horse hat jedes Foto, jedes Porträt verweigert. Er war der radikalste unter den Ureinwohner-Führern. Er führte die Sioux im Kampf von Little Big Horn gegen die Elite-Truppe von Ehrgeizling General Custer. Ein tollkühner Held, der als unbesiegbar galt, bis er 1877 glaubte, den Weißen vertrauen zu können. Mehr als 900 Angehörige seines Volkes überzeugte er, in Fort Robinson ihre Waffen abzugeben. Die Büffelweiden am Powder River waren sein Preis. Seine eigenen Leute mißtrauten dem Friedensversuch: Zwei Stammesbrüder hielten Crazy Horse fest, als ihn drei Bajonettstiche niederstreckten. Seine Familie setzte Crazy Horse an der Biegung des Flusses Wounded Knee bei - in einem anonymen Grab.
In seinen Visionen hatte Crazy Horse die Unterwerfung seines Volkes durch die Weißen vorausgesehen. Die Lakota wurden vernichtet, dunkle Schlangen, Teerstraßen, winden sich durchs Land - Crazy Horses Traumbilder sind Wirklichkeit geworden. Der Traum des Steinmetz Ziolkowski dagegen gleicht eher einem Alptraum. Im Visitors Center steht ein Gipsmodel des Chiefs mit seinem Pferd, das fatal an faschistische Körperideale erinnert. Zum Gesicht kann man hinauffahren. Der Bildhauer hat es nie gesehen, zu Lebzeiten war er nur mit Vorarbeiten beschäftigt. Aber er hat vorgesorgt, ein Duzend Kinder und seine willensstarke Witwe Ruth führen sein Lebenswerk fort.
Die heiligen Black Hills sind South Dakotas größte Touristenattraktion und die Heimat des Klassischen Wilden Westens mit Städten wie Custer oder Deadwood. Hier wird aus Tradition gespielt, geritten und gesoffen. Kevin Costner hat aus seinem indianischen Kassenschlager Geld abgezweigt für sein Casion Midnight Star. Nach einer Phase heftiger Anfeindung haben sich die indianischen Casionbesitzer mit dem prominenten Nachbarn längst arrangiert. So populär wie die Besitzerin des Saloon No.10 wird er in Deadwood wohl trotzdem nie werden. Die tanzt mit ihren 96 Jahren die Nacht nieder und flucht auf die Regierung, die Bordelle verboten hat.
In der Rosebud Reservation ist Tanz-Zeit, Powwow-Zeit. Die Straße dorthin schlängelt sich durch das blonde Präriegras von Pine Ridge, an Felsen und Hügeln vorbei, läuft eine Weile entlang den glitzenden Wassern des Cheyenne River und verläßt dann das Reservat. Endlose Meilen durch Felder folgen. Abgestorbene Bäume, platte Landschaft. Ein verschlafenes Kaff, das aus einer Straße, einer Tankstelle und einem Diner besteht. "No shirt, no shoes - no service!" steht an der Tür des Lokals. Ein weißer Mann im Unterhemd sitzt drin. Für ihn gilt das Schild offenbar nicht. Wachsame Blicke ruhen auf dem Fremden. Der Gedanke, daß hier jedermann ein Gewehr besitzt, ist beunruhigend. Plötzlich ist alles wie im Western.
Fliegen surren, die Bedienung knallt die Gläser auf den Tisch, die Tür geht auf, zwei Indianer kommen rein. Aber kein Schuß fällt. Statt dessen kommt das Essen.
Daß man wieder in einer Reservation ist, sieht man auf Anhieb. Die Lakotas bestellen ihr Land nicht. Überall wachsen in der wundervollen wilden Landschaft die kleinen süßduftenden Salbeibüsche, sweetgras, und Wacholder. Ein Bach staut sich zwischen Felsen zu einem kleinen Weiher. Libellen zischen übers Wasser. Dann der Schock: Take That plärrt über die Pferdekoppel mit Tipi und den Rummelplatz mit Autoscooter und Schießbuden gleich daneben. Gefiederte Indianerkinder fliegen auf einem Kettenkarussell durch die Luft. Das soll ein Lakota-Tanzfest sein? Im Labyrinth der Buden tut sich plötzlich ein traditioneller Rundplatz auf. Die Tanzwettbewerbe haben schon begonnen. Neben dem Grastänzer im prächtigen Kostüm aus Wollfäden (früher waren es Skalps), steht ein Junge im T-Shirt mit Baseballmütze. Bei einem blauen Nylonzelt unterhält sich ein Chief in einem bunten Gewand, ein Fahrrad am Rücken, mit seinen Kindern, die Burger und Chips essen. Eine Familie tanzt ihre Begrüßungsrunde: der Chief und die alte Frau in traditioneller Tracht, die Kinder in Shorts und T-Shirt, dazwischen ein Kleid mit Hunderten von Glöckchen, aus Schnupftabakdosen gefertigt. Powwow-Gesang vermischt sich mit den Ansagen der Fahrgeschäfte, Rockmusik dröhnt. Auf dem Rodeoplatz reiten verschiedene Teams wilde Pferde zu. Staub wirbelt auf, Kinder jubeln. Eine Frau sammelt Bierbüchsen ein.
Der Weg nach Rapid City führt durch durstiges gelbes Land. Das Dorf, das Kevin Costner in seinem Film durchritt, fliegt an den Autoscheiben vorüber. Eine Fata Morgana? Nein, in der Nähe von Wall wurden tatsächlich Szenen des Films gedreht. Hier steht ein ganzer Ort noch genauso da wie vor hundert Jahren. Ein Hohlweg führt hinunter zum Fluß, Planwagen, von Pferden gezogen, Tipis ... In Rapid City brennt die Luft. Samstagnacht ist alles auf den Beinen, was laufen, saufen und tanzen kann. Weiße und indianische Jugendliche stehen auf der Straße. In der Edelgalerie "Prairie Edge" steigt eine Vernissage indianischer Kunst. Hier wird Tradition vermarktet. Oder gepflegt? "Hast Du die Indianerfigur vor dem Eingang gesehen?" fragt Charlotte Black Elk, die Urenkelin des legendären Häuptlings Schwarzer Hirsch, und lacht spöttisch. Der edle Wilde, der an den Händen gebunden ist, wird niemandem gefährlich. Crazy Horse hätte darüber nicht lachen können.