"Charly Juchler, weshalb haben dich die Lakota-Indianer adoptiert?"
Das Gespräch führte Daniel B. Peterlunger, Fotos: Charly Juchler
Der 42-jährige Charly Juchler aus Winterthur lernte Maschinenmechaniker, schloss eine Handelsschule ab und arbeitete als Bordmechaniker auf verschiedenen Schiffen von Greenpeace. Dann zog es ihn wieder da hin, wo er schon – bevor er das Meer befuhr – gewesen war: zu den Indianern in Nordamerika. Reisen, die sein Leben veränderten. Die Indianer faszienierten Charly seit seiner Kindheit – heute ist er ein grosser Kenner der lakota, der Prärie-Indianer in South Dakota. Seit 12 jahren lebt er in den Black Hills vom handel mit prärie-indianischer Kunst und von Kulturreisen mit und zu den Lakota.
Wenn früher das Wort Indianer fiel, dachte man an den guten Winnetou. Du auch?
Schon als Kind, noch vor den Winnetou-Filmen, habe ich mich für die Indianer interessiert. Als jugendlicher gefielen mir die Filme, obschon sie viel Kitsch servierten. Doch das spielte damals keine Rolle. Ich las viel über die Indianer: Biographien, historische und ethnologische Abhandlungen. Ich sah Bilder von Menschen und landschaften und fühlte eine unerklärlich starke Anziehung zu den Black Hills, die im US-Bundesstaat South Dakota liegen. Die weite und unberührte Landschaft ist die geologisch älteste Gebirgsformation der Welt und ähnelt ein bisschen dem Jura. Mich faszinierte diese Region und das indigene Volk der Lakota, die manche auch Sioux nennen, ein Übername, den die französischen Kolonialisten geschaffen haben.
Woher rührt dein spezifisches Interesse an den Lakota?
Die Lakota – es bedeutet „Freunde“ oder „Alliierter“ – haben eine besondere Geschichte: Die meisten indianischen Nationen waren bereits unterworfen, als die Lakota noch für ihre Familien kämpften. Sie und die Vietnamesen sind die einzigen Völker, die den USA eine militärische Niederlage bereiteten. Der Lakota- und Cheyenne-Sieg führte 1868 zwischen der souveränen Nation Lakota und den USA zum historisch wichtigen Vertrag von Fort Laramie. Er bestätigte, dass den Indianern ein riesiges Terretorium gehhört. Später brachen die USA den Vertrag. Nebst der Lakota-Historie beeindruckt michihr Wissen über die Natur, den Kosmos und das menschliche Zusammenleben. Doch ich wusste – vor meiner Reise zu den Lakota –, dass sich ihre Lebensweise stark verändert hatte und dass nicht Bisons oder Tipis ihren Alltag prägen.
Wie verlief die erste Begegnung?
Ich muss kurz ausholen:
Als ich 14 war, starb mein Vater. Es war eine schwierige Zeit. Damals entschied ich – ja es war eine Beschluss –, dass ich von jetzt an immer meinen Träumen folgen will. Nach dem Lehrabschluss reiste ich also mit 19 zum ersten Mal in den USA, per Anhalter und mit wenig Geld. Und schliesslich erreichte ich die Black Hills.
Wie war’s?
Desillusionierend!
Obschon ich ja von den Veränderungen wusste, traf mich die erschreckenden Armut, die ich sah, unvorbereitet. Ich war schockiert über die materielle und vor allem kulturelle Armut. Ich begegnete nur bettelnden Alkoholikern! Dass sich hinter dieser Realität eine besondere Kultur, Weisheit und Würde verbarg, glaubte ich zu wissen. Doch wie sie erkennen? Wie dahin gelangen?
Hatte sich dein Traum verflüchtigt?
Nein. Es war gut gewesen, die deprimierende Situation und die Dritte-Welt-Strukturen in den Indianer-Reservaten zu erleben. Ich reiste ab, um es zu verdauen. Zwei Jahre später war ich wieder dort: Diesmal als Freiwilliger der Hilfsorganisation „Service Civil International“. Im Pine Ridge Lakota Reservat arbeiteten wir an der Infrastruktur, reparierten Autos, strichen Häuser oder halfen Salbei einzusammeln, das für den Sonnentanz und andere Riten benötigt wird. So lernte ich interessante Lakota-Persönlichkeiten kennen. Prägend war die Begegnung mit Frank Fools Crow, den man als eine Art Dalai Lama der Lakota bezeichnen könnte, um zu zeigen, welche Bedeutung er dort hat. Ich traf Indianer, die ihre traditionelle Kultur leben und sie in die heutige moderne Zeit einbetten. Ich kam in Kontakt mit Bison- und Pferdezüchtern, traditionellen Heilern und Musikern. Mir eröffnete sich das gesellschaftliche Netz einer besonderen Kultur, die lebt ...
... die du ursprünglich gesucht hast?
Genau!
Vielen gilt: Rothaut gut, Bleichgesicht schlecht.
Ja, ein altes Vorurteil: Der edle Wilde, der ein ist mit der Natur, alles weiss und mit den Tieren spricht. Das ist Unsinn. Auch das Gegenteil des Vorurteils existiert: Alle Indianer sind alkoholisierte Faulpelze. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
Dein Einsatz bei der Hilfsorganisation ging zu Ende, du wurdest Bordmechaniker bei Greenpeace ...
Das war eine interessante und abenteuerliche Zeit. Die von viel Idealismus geprägte Arbeit hatte den Vorteil, dass, gemäss Seerecht, auf acht Monate Arbeit vier Monate bezahlter Urlaub folgen. So konnte ich ab 1986 jedes Jahr zu den Lakota reisen und meine Freundschaften pflegen. Doch sechs Jahre Greenpeace-Arbeit – obschon spannende – reichten mir, aber einen „normalen“ Job in der Schweiz suchte ich nicht. Zu diesem Zeitpunkt lief der Film „Dancing with Wolves“. Dadurch erfuhr der Tourismus in den Indianergebieten South Dakotas einen enormen Aufschwung: Plus 70 Prozent! Damit stieg auch die Nachfrage nach indianischem Kunsthandwerk. Viele Indianer sind künstlerisch sehr begabt, und ich kenne mehrere persönlich. So beschloss ich, gutes und authentisches Kunsthandwerk zu fairen Preisen zu kaufen und in der Schweiz an Ausstellungen anzubieten.
Wie hat sich deine Beziehung zu den Indianern entwickelt?
Durch diese Geschäftstätigkeit lernte ich weitere Lakota kennen. Die bereits seit Jahren bestehenden Beziehungen vertieften sich. Die Lakota spürten, dass ich mich ernsthaft darum bemühte, mich ihrer Kultur mit Respekt zu nähern – und ich denke, das war entscheidend. Ich wurde in Grossfamilien integriert. Und vor zehn Jahren adoptierte mich die Familie Bluelightning als Lakota-Mitglied.
Wie muss man sich das vorstellen?
Die Lakota befolgen sieben Riten, einer davon ist der Hunka-Ritus: Diese Regel verlangt, dass es in der Lakota-Gesellschaft keine Waisenkinder, alleinstehende Kranke oder Alte geben soll, auch keine verwaisten Nicht-Lakota im nächsten Umfeld. Durch die Adoption erhielt ich sowohl einen neuen Namen als auch eine neue Heimat. Es bedeutet, dass ich immer ein Dach über dem Kopf und zu essen habe. Natürlich bin ich verpflichtet, dies auch anderen anzubieten.
Die Adoption darf nicht als romantische Angelegenheit verstanden werden, sondern ist ein traditionelles, in der Vorzeit begründetes Konzept des Überlebens und der gesellschaftlichen Integration. Früher ging das so weit, dass man sogar seinen Feind adoptierte, um die Chance zu erhalten, eigene Emotionen – Hass! – in Anteilnahme zu verwandeln.
Was bedeutet dir die indianische Kultur?
Die Lakota sind ein indigenes Volk, dessen Lebensweise Kultur und Wissen bedroht ist. Das ist ja bei den meisten Indigenen der Fall. Obschon die Lakota ihre alte Lebensweise weitgehend verloren haben, besitzen doch rund zehn Prozent ein enormes Wissen über unterschiedlichste Aspekte des Lebens, über die Flora und Fauna und Heilmedizin. Und das ist nicht nur für mich von Bedeutung, es kann für uns alle wertvoll sein. Sie entdeckten beispielsweise Echinacea ...
... das bei uns unter anderem als Produkt „Echinaforte“ bekannt ist?
Genau. Dr. Vogel brachte es in den 50er jähren in die Schweiz. Oder die Lakota wissen, wie man ein soziales System organisiert, um friedlich zusammenzuleben. Dabei wird die Eigenverantwortung stark betont. Aber nicht zum Eigennutz, sondern um selbständig Gutes für andere zu tun, damit die Gesellschaft insgesamt harmonisch lebt. Das finde ich faszinierend. Es ist der Schlüssel zu einer Türe, die in eine andere Welt führt. Andere Indianer, die Irokesen etwa, haben unsere heutige Welt auch beeinflusst, nämlich durch ihre demokratische Verfassung, die unter anderem gleiche Rechte für Mann und Frau festschrieb und der späteren US-Verfassung teilweise als Vorlage diente, die wiederum die Schweizer Bundesverfassung von 1848 beeinflusste.
Zehn Prozent der Lakota besitzen wertvolles Wissen, sagst du. Wie viele Lakota gibt es?
Im Pine Ridge Reservat leben 20 000 Menschen. Davon leben etwa zwanzig Prozent traditionell unter Einbezug der Moderne, weiteren 20 Prozent bedeutet die Tradition wenig. Sechzig Prozent sind leider Alkoholiker und arbeitslos. Das ist jedoch kein typisch indianisches Problem. Bei vielen Indigenen, die unter kulturellem Anpassungsdruck stehen, ist das so – etwa bei den Aboriginies.
Sich mit Indianern zu beschäftigen, in Schwitzhütten zu sitzen, jährlich einmal im Tipi zu übernachten und einen Traumfänger neben das Bett zu hängen, gilt vielen als trendy – was hältst du davon?
Diese Pop-Kultur scheint auf der zeitlosen Faszination für die Lebensweise der Prärie-Indianer zu beruhen. Ich frage mich oft, woher das komm. Vielleicht ist es die Vorstellung von Freiheit. Der Freiheit, sich selber zu sein. Schwitzhütten, Tipi und Traumfänger sind für einige „popig“, für andere sind sie verwirklichte Emotionen. Wie der Knabe im Mann, der gern in der Natur ist und ein Feuer macht. Das auszuleben, find ich in Ordnung. Aber manchmal wird „Indianisches“ aus einem kulturellen Rahmen herausgebrochen, für den hier das Verständnis fehlt. Denn es geht doch darum, Spiritualität zu leben! Das ist eine Praxis – Beispiel Schwitzhütte – die den Indianern ein Jahrhundert lang verboten war! Also fand es im Geheimen statt. Erst 1978, unter Präsident Jimmy Carter, wurde die indianische spirituelle Praxis gesetzlich erlaubt. Und jetzt kommen wir: Hey! Das machen wir auch! Da fehlt es oft an Respekt und Hintergrundwissen.
Welche Bedeutung haben die Indianer für uns?
Für einige keine, weil sie nicht wissen, dass Indianer nicht mehr im Tipi schlafen oder tagelang über die Prärie reiten. Leute, die das glauben, traf ich mehrmals. Andere sind von der Schönheit der komplexen Kunst begeistert, die auch ins Alltagsleben, etwa in Form wunderschöner Haushaltsutensilien, integriert ist. Einige berührt die indianische Philosophie, die uns aufordert zu erkennen, dass wir ein Teil von allem sind. Dieses zirkulare Denken schliesst mit ein, dass wenn du recht hast, so habe ich nicht zwangsläufig Unrecht. Das Gegenteil, das lineare Denken, erleben wir hier doch täglich!
Wie sieht die heutige Situation der Indianer im Vergleich zu vor 20 Jahren aus?
Obschon der Arbeitsplatzmangel in den Reservaten ein echtes Problem ist, sehe ich auch grosse Verbesserungen. Ein Beispiel: Heute kauft ein Lakota-Künstler ein Bisonfell als Rohmaterial zum Bemalen für 400 Dollar, vorher 2500. Der tiefe Preis ist möglich, weil es wieder Bisons gibt! Die Wirtschaft lebt davon: Fleisch, Wolle, Häute. Die eigenen Kulturprodukte sind für die Indianer wieder erschwinglich geworden und das fördert die eigene Identität. Auch der wachsende Tourismus kann dazu etwas beitragen.
Was können wir hier für die Indianer tun?
Simple Dinge: Wir sollten uns über sie – und generell indigene Völker – zuerst einmal informieren. Und beim Kauf eines Traumfängers fragen, wohin das Geld fliesst. Prüfen, ob er nicht „Made in Taiwan“ ist. Der Glaube, dass es arme Indianer und böse Weisse gibt, können wir loslassen. Er hilft niemandem. Und es ist vorbei. Längst haben Indianer und Weisse gelernt zusammenzuarbeiten.
Manchmal geistern düstere Indianer-Prophezeiungen – Endzeitszenarien der Hopi – durch die Medien. Was soll man davon halten?
Ich habe aus mehreren Gründen etwas Mühe damit: Weil die Aussagen von den Hopi stammen, die sich, wie mir scheint, manchmal etwas elitär gebärden und sich als die Auserwählten im Indianerreich zu fühlen scheinen. Bei diesen Weissagungen geht es letztlich um Macht, Angst und um Kontrolle. In vielen Gesellschaften, auch nicht-indianischen, gelang es der Priesterschaft mit Hilfe bedrohlicher Endzeitszenarien die Menschen in Schach zu halten, um bestimmte Regeln durchzusetzen. Und was bedeutet schon Endzeit? Und für wen? Wirbelsturm Katharina löste in New Orleans eine Art Endzeit aus, aber nicht in Zürich.
Also, trotz Prophezeiung: „Don’t worry – be Hopi?“
(Lacht…) Mir gefällt “Be happy and responsible!” besser.
Etwas anderes: Seit zehn Jahren organisierst du Kleingruppen-Reisen zu den Indianern in den Black Hills. Worum geht es dir dabei?
Ich möchte ernsthaft Interessierten ermöglichen, die Jahrtausende alte Kultur der Prärie-Indianer – so alt ist sie wirklich! – zu erfühlen, zu erleben und zu sehen, wie sie heute ist. Wir reiten und besuchen traditionelle heiler, Lehrer, Philosophen und Musiker. Diese Lakota sind meine Freunde und verdienen durch uns anständig. Es soll ein Geben und Nehmen sein, mithin ein Beitrag zu einem aufrechten Leben. Ich glaube, das ist möglich, solange wir nicht als konsumierende Touristen auftreten, sondern als reisende, die etwas lernen wollen – das ist für mich ein wichtiger Unterschied. Was ich mit den Reisen und den Menschen erlebe, denke ich, bringt das Beste aus mir hervor. Deshalb mache ich es.
Die touristische Infrastruktur reicht nur bis an die Grenze der Reservate. Die bedürftigsten Indianer innerhalb des Reservats profitieren von den Besuchern am wenigsten. Was ist zu tun?
Auf meinen Kultur- und Landschaftsreisen und neuerdings auch Themenreisen, bewegen wir uns zu 60 Prozent innerhalb des Reservats – alles Geld bleibt im Reservat. Für die Entwicklung der Infrastruktur ist die Stammesregierung verantwortlich. Alles geht langsam, und es gibt erst ein Motel.
Reisende bringen unterschiedliche Erwartungen an die indianische Kultur mit. Was wünschst du dir, sollte man im geistigen Rucksack mitbringen?
Respekt: Das ist das Wichtigste. Und Offenheit. Wissen ist weniger wichtig, das kann man sich aneignen.
Deine Website heisst www.chanteetan.com, ein Ausdruck der Lakota-Sprache, der „von Herzen“ bedeutet. Was meinst du damit?
Cangleska-Wakan, die Black Hills. Dort liegt der heilige Kreis, wo der Mensch geboren wurde. Der Ort der sieben Riten, die einem Ziel dienen: ein guter Mensch zu sein – jeden Tag. Das ist schwierig. Und weise zu werden. Nicht vom Kopf her, sondern vom Herzen.