"Chante Wakan: Im Land der Lakota - Indianer"
von Claude Jaermann
Amerika gilt als das Reiseland schlechthin. N.Y., L.A. & Co. sind dabei die Renner. Einige schaffen es bis nach South Dakota im Mittleren Westen der Staaten und bewundern die in Stein gehauenen Präsidenten am Mount Rushmore. Dass die Gegend rund um die für die Indianer heiligen Black Hills viel mehr zu bieten hat, zeigt der Winterthurer Charly Juchler auf seinen faszinierenden Kultur- und Landschaftsreisen.
"Wash-te ... they are good", grinst uns Sunny an und reicht uns wilde, reife Buschpflaumen, die links und rechts der ausgewaschenen Naturstrasse wachsen. Wash-te ist das erste Wort in der Lakotasprache, das wir hören, und heisst soviel wie "gut". Sunny, ein 60jähriger kräftiger Indianer vom Stamme der Lakotas gehört zu den letzten Pfeifenmachern; eine uralte Handwerkskunst, die wie so viele andere vor ihr, kurz vor der Vergessenheit steht. Viele junge Lakotas lachen über ihre eigenen kulturellen Wurzeln und stehen dem Big Mac oftmals näher als dem Medizinrad, das im nolistischen Denken der Indianer als Wegweiser dient. Sunny, dessen indianischer Name Mahpita-Ta, Blaue Wolke, lautet, beherrscht es noch, das Auffinden der Eschenbäume, von denen nur der zweite Schnitt für die Herstellung des Pfeifenhalses taugt. Auch im Bearbeiten des rötlichen Catlinit-Steins, der in ganz Amerika nur in einem einzigen Steinbruch zu finden ist und aus dem der Pfeifenkopf entstehen soll, ist Sunny ein Meister. Seit seinem Herzinfarkt tritt Sunny etwas kürzer, was ihn nicht davon abhält, in drei Tagen und Nächten eine Chanupa (so der traditionelle Name der Pfeife) herzustellen. Auch das Rauchen musste er aufgeben; der Kautabak ist das einzige Laster, das er habe, meint er lachend. Auf der Rückfahrt zum Camp erzählt uns Charly, unser Reiseleiter, Chauffeur, Übersetzer, Historiker und vieles mehr, wie er solche Menschen wie Sunny sucht und ihnen durch Aufträge, Ausstellungen und nichtzuletzt diese Reisen die Chance gibt, ihre eigene Kultur zu pflegen und aufrechtzuerhalten.
Unvergessliche Nächte im Tipi
Eine Heuschrecke kitzelt mich am Ohr und weckt mich nach der ersten Nacht im Tipi, dem typischen indianischen Rundzelt. Wir campen in den Black Hills, für die Lakotas heiliges Land, das ihnen gemäss dem Vertrag von Laramie seit 1868 auch gehört. Als die US-Armee unter General Custer 1874 jedoch Gold in den Black Hills entdeckte, wurde auch dieser Vertrag gebrochen. Vor meinem Tipi stehend, blicke ich der Sonne entgegen, die sich langsam am Horizont aus der endlosen Prärie erhebt. Es ist Anfang September und schon um 6 Uhr morgens angenehm warm. Auf Charlys Programm, das eigentlich mehr ein Konzept ist, da sich jeder neue Tag nach dem Wetter, der Laune der Gruppe (4-8 Personen) und den vielen zusätzlichen Möglichkeiten, die uns Charly täglich serviert, richtet, ist heute Reiten angesagt; und dazu fahren wir ins Herz des Pine Ridge Reservats nach Manderson.
Auf dem für amerikanische Verhältnisse kurzen Weg von 1,5 Stunden erzählt uns Charly viel über die Gegend, die Geschichte und das Leben der Indianer von damals und heute. Beim Blick auf die bezaubernde Landschaft, kein Wunder wählte Kevin Costner für seinen Film "Dances with wolves" South Dakota als Drehort, hat man das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben, und jeden Moment könnte eine riesige Buffaloherde über einen sanften Hügelkamm donnern, oder Crazy Horse, einer der bekanntesten Lakota-Häuptlinge, reite hoch zu Ross im Gegenlicht über die Prärie.
Die Wolke reiten
Die Realitäten heissen Scenic oder White Clay, kleine Kaffs, die hauptsächlich aus Liqueur-Shops bestehen, in denen die Indianer Kunstgegenstände oder Fürsorgegelder gegen Hochprozentiges eintauschen. Sie befinden sich an den Ausfallstrassen direkt an der Pine-Ridge-Reservatsgrenze, da Alkohol innerhalb streng verboten ist. Kontrollierbar ist dies praktisch nicht, denn Reservate sind exterritoriale Zonen, in denen die State Police keinen Zugriff hat und die Reservatspolizei oft überfordert ist. Die Alkoholikerrate, die praktisch mit der Arbeitslosenquote identisch ist, beträgt "nur" noch 80%. Vor 10 Jahren lag sie noch bei 90%. Und wie in jedem Land dieser Erde, wo Menschen ihren Trost ertrinken, sind soziale Probleme augenfällig und die Kriminalität überdurchschnittlich hoch.
"Hy ... I'm Alex White Plume", begrüsst uns der Besitzer des Kiza Parks, einer Ranch, zu der ca. 80 Pferde und über 1000 Hektar Land gehören. Land, das jedem Westernfan unzählige Filmausschnitte in Erinnerung rufen könnte. Land, das nicht nach Freiheit und Abenteuer ruft, sondern der Inbegriff für diese beiden strapazierten Begriffe ist. Mein Pferd hört auf den Namen Mahpita, Weisse Wolke, und ist, wie ich erst nach einer halben Stunde im Sattel erfahre, Alex' Rennpferd! "It's the fastes horse in the reservation ...", erklärt er mir grinsend. Verwundert und auch etwas beschämt reite ich weiter im Bewusstsein, dass mir Alex ohne grosses Aufsehen sein wertvollstes Pferd zur Verfügung stellte. Alex arbeitete jahrelang als Wildhüter im Reservat und pflegte seine kulturellen Wurzeln so gut es geht. Er war 1990 einer der Initianten des 100-Jahre-Gedenkritts von Wounded Knee, der den vielen Opfern des gleichnamigen Massakers galt. Heute lebt er von seinen Pferden und züchtet seit kurzer Zeit Buffalos, die für seine Vorfahren der Inbegriff von Leben waren. Jeden Teil konnten die Lakotas verwerten: Vom Fleisch, das als Nahrung diente, dem Fell, das in harten Wintern Wärme spendete, über die Haut, die zu Kleidern und Tipis verarbeitet wurde bis zu den Klauen, aus denen sie unter anderem eine Art Leim herstellten. Deshalb verehrten sie diese kräftigen Tiere, von denen früher etwa 40 Millionen durch die weite Prärie wanderten. Sie bestimmten das Leben der Lakotas und anderer Prärievölker. Eine der grössten Herden, die jemals gesichtet wurden, war über 50 km lang und dehnte sich über 20 km in der Breite aus. Doch das ist Geschichte. Innerhalb von 25 Jahren töteten die Einwanderer praktisch sämtliche Buffalos, und nur mit Glück konnte eine kleine Herde von etwas mehr als 100 Tieren nach Kanada getrieben werden. Doch der Buffalo kehrt zurück: Im Custer-State-Park in den Black Hills oder einem riesigen Gebiet im Pine-Ridge-Reservat von etwa der 50fachen Fläche der Stadt Winterthur sind sie wieder zu beobachten. Charly führt uns bis auf wenige Meter an eine Herde von etwa 60 Buffalo-Kühen mit ihren Jungen und Jährlingen heran. Ehrfurcht befällt mich beim Betrachten dieser stolzen, ruhigen Tiere. Doch so stoisch ein Buffalo auch wirken mag, unser zwei Tonnen schweres Fahrzeug würde er mit links umdrehen. Sobald uns einer seinen Hintern zeigt, nach hinten guckt und den Schwanz stellt, ist es höchste Zeit für den Rückzug. Wenn er diese Drohgeste nochmals ausführt und man nicht weg ist, sei es zu spät, klärt uns Charly auf. Der Buffalo würde sofort angreifen, und auf diese Begegnung der wuchtigen Art legt vorzugsweise niemand Wert.
Enge Begegnungen
Informationen, wann und wo ein nicht für Touristen organisiertes Pow-Wow, ein typisches indianisches Tanzfest, abgehalten wird, findet man in keinem Veranstaltungskalender.
Porcupine heisst unser nächstes Ziel. Der Insidertip stammt von Charlys Lakotafreunden. Unterwegs streifen wir die Badlands, deren Name abweisender klingt, als die aparte Landschaft in Wirklichkeit ist. Dunkle, unheilvolle Wolken ziehen am Himmel auf, und kurze Zeit später fallen die ersten Tropfen, die bald in Hagel übergehen und die ganze Strasse in eine Rutschbahn verwandeln. Als wir auf dem Festplatz eintreffen, rennen wunderschön geschmückte Tänzer in ihren von Generation zu Generation weitervererbten Kleidern und mit Cola und Hot Dogs bewaffnete Teenies kreuz und quer zu ihren Autos, um sich vor dem eisigen Regen in Sicherheit zu bringen. Musiker versorgen ihre Trommeln, andere tragen Verstärkeranlagen und riesige Lautsprecherboxen unter eine Blache. Wir sind die einzigen Weissen, was ein gutes Zeichen ist, dass es sich um ein familiäres und traditionelles Pow-Wow handelt. Nach einer halben Stunde ist der meteorologische Spuk vorbei; alle machen sich wieder bereit, und der Sprecher bietet auf englisch und in der Lakotasprache, die auch wieder von jüngeren Generationen erlernt wird, die Trommler, Sänger und Täzer auf, das Fest kann beginnen. Auch hier, in diesem kleinen Tanzkreis in Porcupine, South Dakota, prallen Gegensätze aufeinander: uralte Lieder über zeitgenössische Elektronik, reich geschmücktes Kunsthandwerk auf dem verrosteten Kühler eines Ami-Schlittens oder wir weisse Touristen inmitten von 500 Lakotas.
Ein weiser Indianer hat mal gesagt, dass sein Volk nur überleben kann, wenn es den Umgang mit dem Computer ebenso beherrscht wie den Adlertanz. Wir wanderten im Battle Creek und auf den Harney Peak, badeten im Land der Pumas bei den Big Falls, gedachten bei Wounded Knee den Gefallenen, angelten unser Nachtessen im Sylvan Lake und verspielten in Deadwood eine Handvoll Dollar. Wir reisten durch majestätische Gegenden, die kein Interstate-Tourist und die meisten Einwohner South Dakotas je sahen. Diese Reise ist eine Begegnung mit den Welten einer beinahe verlorenen Lebensart und der heutigen Realität mit ihren Kontroversen und Perspektiven. Wir liessen uns berühren von einer unvergleichlichen landschaftlichen Schönheit, sozialen Problemen, sensiblen wunderbaren Menschen, dem "American way of live" und der Herausforderung, an deren Versöhnung teilzunehmen.