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Magisches Indianerland im 2001


"Magisches Indianerland"
Kapitel: "Rapid City - Bilder aus der Vergangenheit" (Seite 104 bis 111)

von Thomas Jeier und Christian Heeb,
Bruckmann Verlag GmbH, 2001

Auf dem scheckigen Indianerpony, die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, sieht Charly Juchler beinahe selbst wie ein Indianer aus. Und irgendwie fühlt er sich auch so: "Seit frühester Kindheit hat mich die Kultur der nordamerikanischen Indianer auf eine spezielle Art berührt. Sie hat mein Leben geändert".
Der Schweizer wurde im Jahre 1963 in Winterthur geboren und war fünf Jahre als Maschinenmechaniker mit Greenpeace auf hoher See unterwegs, bevor er nach Amerika ging und in den ehemaligen Jagdgründen der Lakota-Indianer ein neues Zuhause fand.
"Im Jahr 1987 nahm ich an einem Unterstützungsprojekt von Service Civil International teil", berichtet er, "eine Art moderner Entwicklungshilfe.
Mein Aufgabengebiet lag in Rosebud und Pine Ridge, zwei der abgelegensten Sioux-Reservationen in South Dakota. Dort entwickelte ich eine tiefe Verbindung zu Land und Leuten."
"Chante Wakan" heißt sein kleines Reiseunternehmen in Rapid City. Zusammen mit indianischen Freunden organisiert er eine der Wenigen Pauschalreisen, die kein idealistisch verklärtes oder esoterisch verzerrtes Bild der Lakota vermitteln sondern auf dem Respekt vor einer fremdartigen Kultur basieren. "Von den Lakota können wir viel lernen", sagt er, "besonders von ihren Wertvorstellungen gegenüber unserer Umwelt. Leider ist von diesem Wissen, dieser Philosophie und Spiritualität in den letzten hundert Jahren sehr viel verloren gegangen. Dennoch hat dieses Wissen überlebt. Wir finden es in diesem weiten Land der Bisons mit seinem ewigen Wind, dem Rauschen der Wälder in den Schwarzen Bergen und bei einigen Lakota, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Erbe ihres Volkes aufrecht zu erhalten und mit anderen Menschen zu teilen. Einige dieser Menschen besuchen wir auf meinen Reisen. Wir lernen weise Männer und Frauen und begnadete Künstler der Lakota kennen."
Ron Hawks reagiert misstrauisch, als er vom Anspruch unseres Schweizer Freundes hört, erklärt sich aber bereit, auf eine mehrtägige Entdeckungsreise in die ehemaligen Jagdgründe seines Volkes zu gehen. Er möchte wissen, wie ein anderer Europäer die Lakota sieht. Bereits auf der Fahrt durch Rapid City erkennen wir, wie respektvoll Charly über die Lakota spricht. "Ich merke sofort, ob ich mit einem Amerikaner oder Europäer spreche", sagt Ron Hawks später, "und nicht nur wegen des Akzents. Amerikaner sind oberflächlich. Sie interessieren sich nicht wirklich für unsere Kultur. Sie kommen auf ein Pow-wow, schießen ein paar Fotos und verschwinden wieder. Wenn sie eine Frage stellen, klingt diese meist ziemlich banal. 'Geht ihr noch mit Pfeil und Bogen auf die Jage?' Das habe ich tatsächlich schon gehört. Viele Europäer interessieren sich ernsthaft für die Kultur der Indianer und wissen sehr viel darüber. Sie nehmen sich Zeit und bleiben oft tagelang bei einem Pow.wow." Als Ron eine sarkastische Bemerkung über Charlys Fahrstil macht und sein hintergründiges Lächeln zeigt, weiß ich, dass er unseren Freund akzeptiert. Wir lachen viel, und ich muss daran denken, wie ernst und verschlossen die Indianer in den meisten Hollywood-Filmen gezeigt werden. Von wegen, ein Indianer lacht nicht. Die Lakota und Cheyenne lachen ausgesprochen viel, und ihre sarkastischen Scherze haben viel von dem trockenen britischen Humor.
In einem Vorort von Rapid City stellt Charly uns eine der bekanntesten Künstlerinnen der Lakota vor. Sonja Holy Eagle, eine hübsche Frau mit klaren Augen und einem herzlichen Lachen, empfängt uns in ihrem Atelier, einer umgebauten Lagerhalle in einem Industrievirtel. Sie bemalt indianische Trommeln und Büffelhäute mit traditionellen und folkloristisch angehauchten Mustern. "Ich habe die Kultur meines Volkes immer geliebt", sagt sie schüchtern, "und möchte, dass sie erhalten bleibt. Ich freue mich, wenn ich ein bischen dazu beitragen kann."
Sonja wurde in Eagle Butte geboren, einem kleinen Ort in South Dakota. Sie wuchs auf der Cheyenne River Reservation ihrer Mutter, eine Miniconjou, und der Pine Ridge Reservation ihres Vaters auf, eines Oglala. "Mein Vater war bei der Armee, deshalb lebte ich in vielen verschiedenen Orten, aber die Sommer verbrachte ich regelmäßig bei meinen Großeltern. Sie waren sehr traditionell geprägt, und ich fühlte mich sehr wohl bei ihnen. James Holy Eagle, mein Großvater, war ein Medizinmann." Ihr künstlerisches Talent entdeckte sie bereits als Kind. Sie zeichnete viel und verzierte ihre Pow-wow-Kleidung mit bunten Glasperlen. Später arbeitete sie viel mit Leder. Sie arbeitete zwölf Jahre für eine Computerfirma, bevor sie sich selbständig machen und sich ganz ihrer Kunst widmen konnte. Inzwischen führt sie eine kleine Firma, die Dakota Drum Company, und vertreibt ihre Trommeln überall in den westlichen USA. Besonders stolz ist sie auf ihren kleinen Auftritt in dem Hollywood-Film "Der mit dem Wolf tanzt", "aber das war wirklich nur eine winzige Rolle!"
Seit zehn Jahren ist sie mit David Hansen zusammen, einem Händler, der ihr auch die Büffelhäute und das Holz für die Trommeln besorgt. "Ich schabe die Büffelhäute wie meine Vorfahren im 19. Jahrhundert", berichtet Sonja, "auch die ursprüngliche Art, die Häute mit dem Hirn der Tiere zu gerben, habe ich beibehalten. So werden die Häute haltbarer."
Eine bemalte Büffelhaut kostet zwischen zwei- und dreitausend Dollar. Sonja hat zahlreiche Preise für ihre Arbeit bekommen und verkauft ihre Kunstwerke in den führenden Galerien des Westens. Auch die Trommeln, die je nach Größe zwischen vierzig und viertausend Dollar einbringen, werden dort vertrieben. Die fantasievollen Ornamente bestechen durch ihre leuchtenden Farben. "Ich vermische traditionelle Muster mit neuen Formen und Farben, die meiner Fantasie entspringen", sagt Sonja, "auch indianische Kunst darf nicht stehen bleiben. Die Kunst ist ein wichtiger Teil unserer Kultur. Ohne sie würde das indianische Erbe nicht überleben."
Ron interessiert sich vor allem für bemalte Büffelhäute. In seinen leuchtenden Augen sehe ich Bilder aus der Vergangenheit, ein Dorf der Lakota. Krieger, die von der Jagd zurückkehren. Arbeitende Frauen. Spielende Kinder. Ein weißhaariger Krieger, der vor einer aufgespannten Büffelhaut sitzt und bunte Muster auf das weiche Leder malt.
"Winter Counts" nannte man die bebilderten Kalender der Lakota, kunstvolle Zeugnisse einer fast vergessenen Kultur, die auch heute noch auf das Jahr genau zu bestimmen sind. Stammeschroniken von unschätzbarem Wert. "Ich kannte Ihren Großvater", sagt er zu Sonja. "James Holy Eagle war ein weiser Mann. Er hat eine sehr begabte Enkelin."
Der Weg zu James "Jim" Mark Yellowhawk, einem progressiven Künstler der Lakota, den Charly schon vor einigen Jahren kennen gelernt hat, führt durch die heiligen Schwarzen Berge der Sioux. Ausgerechnet hier steht das größte Denkmal der amerikanischen Demokratie: der Mount Rushmore. In den Jahre 1927 bis 1941 hämmerte und sprengte der Bildhauer Gutzon Borglum die monumentalen Köpfe der Präsienten George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln aus dem Granitberg. Jedes Gesicht misst achtzehn Meter von der Stirn bis zum Kinn. Allein die Nasen sind sechs Meter hoch. Der Bildhauer wollte die Ideale der amerikanischen Regierung dokumentieren. George Washington steht für die Unabhängigkeit, Thomas Jefferson für die Eroberung des Westens, Abraham Lincoln für die Einheit der Nation und die Gleichheit ihrer Bürger, Theodore Roosvelt für Reformprojekte.
Die Lakota mögen dieses Denkmal aus verständlichen Gründen nicht, und auch Ron Hawks raucht lieber eine Zigarette, als sich den überlebensgroßen Köpfen zu nähern. Angeblich, weil er schon mehrfach davor stand. "Ich finde es gut, dass nur wenige Meilen von diesem Denkmal entfernt ein neues Monument entsteht, diesmal für einen der fähigsten Anführer der Lakota: Crazy Horse." Das klingt beinahe wie wie ein offizielles Statement. Charly versichert ihm, dass der Crazy Horse Mountain genauso zu seinem Reiseprogramm gehört wie der Mount Rushmore, obwohl von dem überdimensionalen Häuptling erst der Kopf zu sehen ist.
Die gigantische Statue wird aus einem Granitfelsen im Süden der Black Hills gesprengt und gemeißelt und ist noch lange nicht fertig. "Ich mag Denkmäler überhaupt nicht", gibt Charly zu, "schon gar nicht solche riesigen Monumente, aber ich muss zugeben, dass ich jedes Mal beeindruckt bin, wenn ich vor dem Mount Rushmore oder dem Crazy Horse Mountain stehe. Wenn schon ein Denkmal für einen Indianer, dann für Crazy Horse. Er wurde beinahe zu einer mythischen Figur, und ich glaube, es ist sehr wichtig für die Lakota, dass sie zu ihm aufblicken können."
Henry Standing Bear, ein Häuptling der Lakota, hatte bereits im Jahre 1939 den Bildhauer Korczak Ziolkowski gebeten, die Statue von Crazy Horse zu errichten: "Der Weiße Mann soll wissen, dass auch der Rote Mann große Helden hatte."
Von 1949 bis 1982 arbeitete der Bildhauer aus New England an der gigantischen Skulptur, seit seinem Tod führt seine Familie die Arbeiten fort, Das Projekt wird allein durch Spenden und Eintrittsgelder finanziert. Über acht Millionen Tonnen Fels wurden bereits aus dem Berg gesprengt, seit einigen Jahren ist das Gesicht des Häuptlings sichtbar. Wie lange die Arbeiten noch dauern werden, vermag niemand zu sagen. Nur eins ist sicher: Nach der Einweihung wird der Crazy Horse Mountain die Präsidentenköpfe am nahen Mount Rushmore um ein Vielfaches überragen.
Wir kehren auf Nebenstraßen in die Black Hills zurück, fahren über die Wildlife Loop Road durch den Custer State Park und erkennen die Bilder, die Ron Hawks in unzähligen Träumen gesehen hat. Das endlose Grasland, wogend wie ein Ozean im frischen Wind, vereinzelt Cottonwoods und der weite Himmel, der sich über den fernen Wäldern der Black Hills verliert. Über 1500 Büffel haben im Naturschutzgebiet eine Heimat gefunden, die größte Bisonherde der Vereinigten Staaten. Jährlich werden über 500 Kälber geboren. Wir spüren ein paar hundert der zottigen Tiere in einer Senke auf und denken an die Zeit, als tollkühne Jäger auf wendigen Ponnies über die Hänge sprengten und mit erhobenen Lanzen in die Herde ritten. Die Büffelkultur der Prärie-Indianer, von den weißen Eindriglingen für immer zerstört. "Der Weiße Mann hat nur eines seiner vielen Versprechen gehalten", sagte der legendäre Rote Wolke einmal, "er hat versprochen unser Land zu stehlen, und er hat es gestohlen!"
Jim Yellowhawk und seine Frau erwarten uns in ihrem achteckigen Haus. Viel Glas und ungebeiztes Holz in einem versteckten Winkel der Black Hills, ein Juwel, das in Europa kaum zu bezahlen wäre. Auf dem Küchentisch leckerer Kuchen und heißer Kaffee. Ron fühlt sich sichtlich unwohl in dieser modernen Umgebung, ist sein Wohnmobil und die Holzhäuser seiner Verwandten auf der Pine Ridge Reservation gewöhnt. Auch mit der Kunst des jungen Cheyenne River Sioux kann er wenig anfangen und gibt das auch zu. "Ich bin ein traditioneller Indianer", sagt er, "und ich glaube nicht, dass unsere heiligen Symbole auf T-Shirts gedruckt werden sollten." Jim hält ihm entgegen: "Ich will mit meiner Kunst möglichst viele Menschen erreichen, und freue mich, wenn Leute über ein T-Shirt zu unserer Kultur finden. Auch die christliche Kirche wirbt auf T-Shirts und Plakaten.
Der zweiundvierzigjährige Künstler wurde in Rapid City geboren und ging in Pierre und Eagle Butte zur Schule. Am Marion College in Indiana studierte er moderne Kunst. Auch er vermischt traditionelle und moderne Muster, ohne dabei seine indianischen Wurzeln zu vergessen. Ein kleiner Rundgang durch sein Haus macht uns mit seinen Techniken bekannt. Da hängt eine Collage aus verfremdeten Fotografien und historischen Zeitungsausschnitten mit dem Titel "Resurrection", eine Aufarbeitung der "Auferstehung" indianischer Kinder, die in den Internaten an der Ostküste zu Weißen umerzogen wurden. "Snagging in The Rain" ist der mit leuchtenden Acrylfarben bemusterte Regenschirm benannt. Das Gemälde "Star World" ehrt traditionelle Symbole wie den Adler, den Büffel und den heiligen Kreis des Lebens. Ein Kunstwerk, mit dem auch Ron sich anfreunden kann. Das Plakat der Black Hills Pow Wow and Art Expo 1997, das Jim gemalt und gestaltet hat, heißt "Intertribal! Everybody Dance". Der traditionelle Tanz gehört zu seinen großen Hobbys.
Jim ein begeisterter Biker, hat sogar Motorräder bemalt. "Ich versuche was anderes zu machen", meint er lächelnd, "deshalb wird es mir nie langweilig." Die vielen Preise, die er für seine Arbeiten erhalten hat, bestätigen diese Behauptung. Seine Frau Ruth und sein Sohn Gabriel Lucas sind stolz auf ihn und wissen es zu schätzen, abseits der Dritten Welt von Pine Ridge in einem modernen Waldhaus zu wohnen.
"Ich versuche einiges von dem Talent und dem Glück, mit dem ich beschenkt worden bin, an junge Indianer weiterzugeben", verspricht Jim, "denn nur wenn unsere Kultur am Leben bleibt, haben die Lakota eine Chance." Ähnliche Worte hat Sonja Holy Eagle gesprochen. "Für die Lakota ist alles eine Frage des Überlebens", sagt Ron, als wir das Haus verlassen und mit Charly nach Rapid City zurück fahren. 

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