Pegasus Sonderbeilage: "Urlaub mit Pferden" 4/1999
"Reiten im Land der Lakota-(Sioux)-Indianer"
Atemberaubende Landschaften, fröhliche Menschen, ein Hauch von Abenteuer und die Begegnung mit einer vergessenen Kultur - eine Art Reisebericht.
Text und Foto: Claude Jaermann
Ich fliege bei Vollmond über die endlose Weite der Prärie. Eine warme Brise streicht durch mein Haar, und ein berauschendes Glücksgefühl durchströmt meinen Körper. Hügel und Wälder sind in milchiges Licht getaucht und ziehen an mir vorbei. Ich muss träumen... "Hoooh!" ruft Charly, unser Reiseleiter. Wir parieren die Pferde durch und kommen auf einer Anhöhe zum Stillstand. Nein: Ich träume nicht. Es ist alles real. Der Vollmond, die Prärie, die Pferde, der Galopp über dieses Land, das Freiheit und Abenteuer ist. Hier irgendwo muss Alex White Plume mit seiner Gruppe sein, die eine gemächlichere Gangart bevorzugte - und mit ihnen ein Krug heisser Kaffee. Charly ahmt den Schrei eines Waldkauzes nach und lauscht in die Stille der Nacht. Postwendend antwortet Alex. Zwei Hügel weiter sitzen wir bereits am Lagerfeuer und sind berührt. Berührt von einem Erlebnis, das so einmalig wie dieses Land ist. Wir liegen im kniehohen Gras auf Alex's Grundstück, dem zirka 1000 Hektar grossen KIZA-Parc, mitten im Pine-Ridge-Reservat, South Dakota, USA, schauen in diese grosse, helle Scheibe am Himmel und lauschen den Stimmen der Nacht.
Die weisse Wolke reiten
Alex White Plume gehört zu den wenigen Lakotas, die eine Art Geschäftssinn entwickelt und sich unserer monetär geprägten Wertvorstellung, die ihrer indianischen diametral gegenübersteht, angepasst haben. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen betreibt er eine Ranch, zu der zirka 80 Pferde und eine kleine Herde Buffalos gehören. Zur Kultur- und Landschaftsreise, die der Schweizer Charly Juchler liebevoll zusammengestellt hat, gehören unter vielem anderen, zwei Tage Aufenthalt bei Alex White Plume. Behutsam wählt er für jeden unserer siebenköpfigen Reisegruppe ein Pferd aus, das dem jeweilgen reiterlichen Können entspricht. Alle seine Pferde sind westernmäßig ausgebildet. Sam, der ältere Sohn von Alex, ist ein gefragter Bereiter in der Region. Seine Art, Pferde zuzureiten, lernte er von seinem Vater und anderen Horsemen. Und wenn bei uns Pferdeflüsterer, Monty Roberts und andere als die Wegbereiter einer neuen, sanften Reitweise hochgejubelt werden, kümmert das Sam und Alex keinen Deut. Sie reiten seit Generationen ihre Pferde so ein. Wenn man die beiden auf ihren Prachtstieren reiten sieht und die Einheit von Pferd und Reiter bewundern kann, spürt man instinktiv, dass ihr Weg, Pferde zu zähmen, ein guter ist. Ihre Pferde gehen von Natur aus barfuss. Denn hier leben die Pferde frei auf Weiden, die am Horizont aufhören und von keiner geteerten Strasse und keinem Steinweg durchkreuzt werden. Mein Pferd hört auf den Namen Mah-piya (ausgesprochen "Mach-pia"), was in der Sprache der Lakotas "Weisse Wolke" bedeutet. Natürlich will ich mehr wissen über das Pferd und weshalb ein Fuchs den Namen Weisse Wolke erhält. "Mah-piya is the fastes horse in the reservation...", erklärt mir Alex grinsend. Verwundert und mit einer grossen Portion Achtung steige ich auf und drehe eine kleine Runde um den Corall im Bewusstsein, dass mir Alex ohne grosses Aufsehen sein wertvollstes Pferd zur Verfügung gestellt hat. Diese Selbstverständlichkeit ist für die Lakota typisch und gehört zu ihrem Lebensstil. Alex arbeitete jahrelang als Wildhüter im Reservat und pflegt sein kulturelles Erbe, wann immer es geht. Er war 1990 einer der Initianten des 100-Jahre-Gedenkritts von Wounded Knee, der den vielen Opfern des gleichnamigen Massakers galt. Heute lebt er von seinen Pferden und züchtet seit einiger Zeit Buffalos, die für seine Vorfahren der Inbegriff von Leben waren. Jedes Teil konnten die Lakotas verwerten: vom Fleisch, das als Nahrung diente, dem Fell, das in den harten Wintern Wärme spendete, über die Haut, die zu Kleidern und Tipis verarbeitet wurde, bis zu den Klauen, aus denen sie unter anderem eine Art Leim herstellten. Deshalb verehrten sie diese kräftigen Tiere, von denen früher etwa 40 Millionen durch die weite Prärie wanderten. Sie bestimmten das Leben der Lakotas und anderer Prärievölker. Eine der grössten Herden, die jemals gesichtet wurden, war über 50 km lang und dehnte sich über 20 km in der Breite aus. Doch das ist Geschichte. Innerhalb von 25 Jahren töteten die weissen Einwanderer im Auftrag der damaligen Regierung praktisch sämtliche Buffalos. Da man in den diversen Kriegen viele Opfer beklagte und die Indianer militärisch nicht in kurzer Zeit besiegen konnte, wählte man diese "Strategie der verbrannten Erde". Die Indianer wurden ihrer Lebensgrundlage beraubt und in die Reservate gezwungen.
Badlands & Buffalos
Unser Basiscamp für einen dreitägigen Ausflug in die Badlands liegt im Sage-Creek, der nach dem überall spriessenden und blühenden Wiesensalbei benannt ist. Alex und seine beiden Söhne Sam und Vic erwarten uns mit den Pferden bereits. Jeder von uns sucht sich "seinen" Begleiter für die nächsten drei Tage aus der kleinen Herde raus, sattelt und führt ihn zum nahe gelegenen Fluss zum Tränken. Uns steht die Lust nach Abenteuer. Und da auch den Pferden noch ein wenig Bewegung gut täte, reiten wir einfach los. Bereits nach dem ersten Hügel zieht uns dieses weite Land in seinen Bann. Kein Wunder, wählte Kevin Costner für seinen Film "Der mit dem Wolf tanzt" South Dakota und die Badlands als Drehort. Hier hat man das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben und jeden Moment könnte eine riesige Buffaloherde über einen sanften Hügelkamm donnern, oder Crazy Horse, einer der bekanntesten Lakota-Häuptlinge, reitet hoch zu Ross im Gegenlicht über die Prärie. Sam, der ältere von Alex' Söhnen, galoppiert auf eine kleine Anhöhe und winkt uns aufgeregt zu. Wir führen unsere Pferde, deren Trittsicherheit wie eine Lebensversicherung ist, durchs hohe Präriegras zu Sams Aussichtspunkt. Was wir dort erblicken, lässt unsere Herzen höher schlagen: Buffalos! Eine Herde von etwa 300 Kühen, Kälbern und Jungbullen weidet unten im Tal im letzten Sonnenlicht. Wir steigen von unseren Pferden, setzen uns hin und bewundern ehrfurchtsvoll diese kraftvollen und ruhigen Tiere. Und auch wenn keiner der Gruppe seine Kamera auf diesen Kurzen Ritt mitnahm, prägt sich dieses Bild, das an längst vergangene Zeiten erinnert, tief in uns ein.
Das Heulen der Koyoten
Langsam sinkt die Nacht über den Sage-Creek und verschluckt die Hügel um uns. Mit jedem Grad der Dunkelheit tauchen mehr Sterne am Firmament auf. Durch die Weite des Landes breitet sich ein Ozean von Himmelskörpern über uns aus. Die Milchstrasse teilt den Himmel in zwei gleich grosse Hälften, und unzählige Sternschnuppen laden zum Wünschen ein. Vic, der Jüngere der White-Plume-Brüder, stimmt ein altes Lakotalied an, dass er von seinem Onkel lernte.
Sein Onkel, ein Stammessänger, ist tot. Geblieben ist eine Kassette, auf der wenigstens noch ein paar alte Gesänge verewigt sind.
Vic hört sie sich oft an und findet so die Möglichkeit, die Tradition aufrecht zu erhalten. Die für die Prärieindianer typische hohe Bauchstimme, die ungewohnte Melodie und die Lakotasprache verbreiten eine sinnliche Stimmung. In Vics Lieder mischt sich das Heulen eines Koyoten-Rudels, das seine erfolgreiche Jagd lauthals mitteilt. Mit diesen beiden unterschiedlichen Gesängen legen wir uns schlafen. Morgen geht's früh raus. Denn wir alle möchten natürlich die Buffalo-Herde nochmals sehen und diesmal auch fotografieren. Beim morgentlichen Tränken der Pferde schwimmen einige Frösche und Wasserschlangen den durstigen Pferdemäulern davon. Es ist Mitte September und die Temperatur hochsommerlich. Ein weiterer heisser Tag steht uns bevor. Die Satteltaschen gefüllt mit viel Wasser und Proviant, machen wir uns auf die Suche nach der grossen Buffalo-Herde. Wie immer tragen uns die Pferde sicher um jedes Präriehund-Loch, über jede Unebenheit und durch jeden Fluss. Selbst das Rasseln der Klapperschlange, die irgendwo im Gras liegt, bringt sie nicht aus der Ruhe. Wir erklimmen den gleichen Hügel wie gestern. Doch die Herde ist weg, weitergezogen in die schiere Unendlichkeit der Badlands. Gemeinsam wählen wir die Richtung, in der wir die grosse Herde vermuten, und reiten los. In Sichtweite bringt sich ein Koyote in Sicherheit, während unten im Tal die Präriehunde, vergleichbar mit unseren Murmeltieren, um die Wette pfeifen. Hinter jedem Hügel könnte die Herde sein oder ein alter Bulle, dem man besser aus dem Wege geht, da sie oft mürrisch und auch aggressiv sein können. Ein Maultierhirsch, der seinen Namen seinen langen Ohren zu verdanken hat, zieht vor uns davon. Wir passieren mehrere kleine Flüsse. Hier in der Wildnis draussen gibt es keine Wege. Zur Orientierung halten wir uns an die ausgetrampelten Buffalo-Pfade, die uns die Übergänge erleichtern. Geier kreisen über uns, und später gesellen sich noch zwei gefleckte Adler dazu. Majestätisch ziehen sie ihre Runden und lassen sich von der Thermik in unglaubliche Höhen tragen. Wir sind schon Stunden unterwegs und staunen, wie eine so grosse Herde in dieser Landschaft unbemerkt bleiben und wie weit sie in nur einer Nacht ziehen kann. Die Sonne brennt noch immer unerbittlich, und wir beschliessen umzukehren. Müde und erfüllt von der Pracht der Tier- und Pflanzenwelt kehren wir ins Camp zurück. Ein alter Buffalo-Bulle trampt durch die verstreuten Tische und Bänke, welche die einzigen Hinweise für diesen verlorenen Campingplatz sind. Das Kratzen an den Tischkanten verschafft ihm offensichtlich Erleichterung vor lästigen, kleinen Plagegeistern, die sich in seinem Fell zu schaffen machen. Der Bulle geht, und eine neue, sternenklare Nacht steht bevor.
Heute begleitet uns Alex' Frau Debby, eine Geschichtenerzählerin, durch die halbe Nacht. Diese mündlich von Generation zu Generation überlieferten Stories sind ein wichtiger Bestandteil der Lakota-Kultur. Sie erzählt uns von der Bedeutung der Sterne, nennt uns fremdklingende Namen und schöpft aus einem 500 Jahre alten Schatz, den schon ihre Ahnen pflegten. Ihr Wissen mag uns fremd erscheinen. Doch Tatsache ist, dass viele Bereiche, die in der Lakota-Sternphilosophie seit Urzeiten selbstverständlich sind, erst in den letzten Jahrzehnten von westlichen Astronomen bewiesen wurden.
Ein Geschenk für Sam
Auch am dritten Tag gilt unsere Aufmerksamkeit der grossen Buffalo-Herde. Wir reiten in eine andere Richtung - wieder über unzählige Hügel und durch verschlungene Creeks. Langsam verändert sich das Landschaftsbild. Die grasbewachsene Prärie geht nahtlos in die staubigen und kargen Kalkstein-Badlands über. Wir rasten unter den letzten Bäumen und lassen die Pferde ausruhen. Sam sattelt schon nach kurzer Zeit sein Pferd. Ihn zieht's weiter in den felsigen Bereich der Badlands hinein. Er sucht nicht nur die Herde... Geschickt reitet er zwischen Steinen hindurch und verschwindet schon bald hinter einem entfernten kleinen Berg. Nach einer halben Stunde kommt er zurück. Irgendetwas hält er im Arm. Als er näher kommt, sehen wir, wie er voller Stolz einen Büffelschädel in den Händen trägt. Wir Fremdlinge können uns nur schwer vorstellen, welche Bedeutung dieser Buffalo-Skull für den jungen Lakota hat. Seinem Gesichtsausdruck an spüren wir jedoch, dass es mehr als Freude ist. Es scheint uns, als wäre der einzige Grund seines Rittes dieser Schädel gewesen. "I found what I'm looking for..." sind seine einzigen Worte, die er über seinen Schatz verlieren mag. Und selbst wenn wir nur einen Bruchteil seiner Philosophie verstehen, können wir uns der Faszination seines Fundes nicht entziehen. Wir haben keine Büffelherde gefunden. Die Natur lässt sich nicht planen. Sie ist einfach. So wie auch wir versuchten, einfach zu sein in diesem traumhaften Land der Gegensätze. Unser Trip neigt sich dem Ende zu. Morgen führt uns Charly in die heiligen Black Hills. Und die darauffolgenden zwei Tage geht's mit Kanus den Cheyenne-River runter.
Die Reisen, die Charly Juchler organisiert und begleitet, sind eine Begegnung mit einer beinahe verlorenen Lebensart und der heutigen Realität mit ihren Kontroversen und Perspektiven. Wir liessen uns berühren von einer unvergleichlich landschftlichen Schönheit, sozialen Problemen, sensiblen, wunderbaren Menschen, dem "american way of life" und der Herausforderung, an deren Versöhnung teilzunehmen. Das Pine-Ridge-Indianerreservat gehört zu den ärmsten Gegenden der gesamten Vereinigten Staaten. Vom kulturellen und landschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, ist es jedoch eine der reichsten.